Ich möchte euch heute den Begriff Shraddha näherbringen. Shradda bedeutet Glaube, Vertrauen. Das Wort Glaube kommt aus dem mittelhochdeutschen – glouben – und bedeutet: für lieb halten, gut heißen. Etwas für Wahr halten, was man nicht fassen, anfassen, sehen, hören, schmecken kann.
Sutra I.20: shraddha-virya-smriti-samadhi-prajna-purvakaitaresam. Die Praxis sollte einhergehen mit Glauben, Vertrauen, Energie, klarer Erinnerungskraft und einer tiefen Ahnung von Samadhi (Versenkung).
Patanjali hat das Wort Glaube mit Vertrauen verbunden; etwas ganz und gar Subjektives also, denn vertrauen heißt: nicht wissen. Darin steckt auch Sehnen und Ahnen. Beide Begriffe sind jenseits von den Erfahrungen des Alltags und jenseits von objektiver Wahrheit verortet. Es wundert mich immer wieder, dass wir einer rationalen Weltsicht so viel Wert beimessen. Das Leben wird nämlich hauptsächlich von Irrationalem regiert: Liebe, Trauer, Zweifel, Hass, Rage, Gier – alles irrational. Auch Ethik und Moral und Ästhetik sind völlig irrational und immer vom gerade herrschenden Weltbild, von den gerade herrschenden Werten, abhängig.
Die Upanishaden sprechen von uns Menschen als eine Stadt Gottes. Tief in uns verborgen sei ein kleiner, unentdeckter Schatz, ein Sinnbild des Heiligseins in uns und ein Sinnbild auch für die Gott ähnliche Freiheit im Handeln. Gemeint ist die Freiheit des Menschen sich zu entscheiden, zu handeln und sich zu entfalten, sich aus eigener Kraft zu transformieren. Wir haben die Freiheit zu schaffen und loszulassen.
Wir alle kennen das Gefühl, uns aus den vermeintlichen, äußeren Zwängen von Müssen, Entfremdung, von zeitlichen Abläufen, Arbeit, Träumen, Freizeit, Hoffen und und und befreien zu wollen. Irgendwo in jedem von uns gibt es eine Ahnung von stabiler Geborgenheit, von Glück. Vielleicht ist das das Erleben der Verbundenheit aller Wesen, das Erleben von Einheit. Von Vertrauen ins Leben.
Wir spüren, dass es hinter all den herumwirbelnden Bewusstseinswellen, hinter all dem inneren Geschnatter, noch etwas anderes gibt. Versenkung - Samadhi.
Was war zuerst? Das Huhn oder das Ei? Eine müßige Frage, denn alles hängt voneinander ab, alles ist miteinander verbunden.
Vielleicht ist es die Stille, die uns Citta-Vrtti-Nirodha verspricht, die wir erahnen, nach der wir uns sehnen.
Goethe sagte: „Jene tiefe Stille beschützt mich gegen die Welt; sie lässt mich wachsen und leben. Jene Stille ist das Beste, da sie mir niemand nehmen kann, weder mit Feuer noch mit Schwert.“
Vielleicht ist ja Shraddha – Glaube, Vertrauen – eine höhere, subjektive Wirklichkeit, die wir tröstlich spüren, aber mit menschlichen Maßstäben nicht verständlich machen können.
Im Yoga heißt es, dass Sadhana ( der Übungsweg ) ohne Shraddha abhängig von äußeren Vorgaben bleibt. Shraddha verbindet das Außen mit dem Innen. Unser spirituelles Vorangehen findet in unserem Inneren statt. Dazu brauchen wir Vertrauen und Intuition. Sonst machen wir Gymnastik und kein Yoga. Ohne Shraddha bleiben wir verhaftet mit den äußeren Attraktionen. Shraddha hilft uns, unser innerstes Selbst zu erfahren.
Wer bin ich, ohne „ich bin“ und „ich mache“?“
Wenn all das Getöse um uns selbst still wird, wenn sich das Herz öffnet und wir tief und sanft ausatmen, erfahren wir inneres frei sein.
Üben können wir das durch präsentes Handeln. Alle uns mögliche Achtsamkeit auf die Yogamatte bringen und ins tägliche Leben. Wenn ich dusche, dusche ich. Wenn ich esse, esse ich. Wenn ich Yoga übe, übe ich Yoga.
Dann geschieht Yoga – das Loslösen (Vairagya) aus dem Verlangen nach weltlichen Dingen. Wir sind weniger beeinflussbar, weniger verführbar, unsere Wünsche werden stiller.
Shraddha ist lebendig. Shraddha ist kreativ. Shraddha ist Achtsamkeit. Shraddha schert sich nicht um Dogmen und Ideologien. Shraddha hat mit Religion, im herkömmlichen Sinn, nichts zu tun. Shraddha kennt keinen Gott. Shraddha findet in unseren Herzen statt. In jedem einzelnen Herzen, auf einzigartige Weise. Wir können Shraddha nur in uns selbst finden. z.B. auf der Matte, in der geduldigen Ausrichtung des Körpers. Im geduldigen Üben des Atems. Im geduldigen kultivieren des Geistes in der Meditation. Geduldiges kreieren von innerem Frieden. Voller Vertrauen.
In der altindischen Philosophie heißt es: Andere zu erkennen, bedeutet Weisheit; sich selbst zu erkennen, bedeutet Erwachen/Erleuchtung.