Ich bin bei einem Workshop in Bad Neuenahr. Sommerakademie Iyengar Yoga. Draußen kocht der Asphalt, 35 Grad am nachmittag, die Nächte tropisch. Die Hitze macht mir zu schaffen und das ist etwas Neues in meinem Leben. Bisher liebte ich die Sommer in Indien, jetzt treibt es mich nachmittags in schattige Räume, unter die kalte Dusche, in einen Waldsee. Mein Kreislauf lässt mich im Stich, ich fühle mich schlapp und saftlos. Nun gut, ich habe aber diesen Workshop gebucht. Und das auch noch in Bad Neuenahr. Hier sieht es aus, als sei die Zeit in der Kaiserära stehen geblieben. Morbide Bauten, Sanatorien und Altenresidenzen, Pflegedienste und viele alte Männer, mit besockten Füßen in Sandalen, darüber kurze Hosen und ein kariertes Hemd, weißer Haarkranz selbstverständlich. Die Geschäfte hängen voller Kleidung, die mich an den Inhalt des Kleiderschrankes meiner längst verstorbenen Schwiegermutter erinnern. Es ist voll hier, Kellner und Supermarktpersonal sind genervt unfreundlich und in der Pension Helma türmen sich einzeln in Plastik verpackte Minibutterstückchen und Marmeladenportiönchen auf dem Frühstücksbuffet neben der Tageszeitung, auf deren erster Seite über plastikverseuchte Meere und Klimawandel berichtet wird.
Ein Highlight für mich ist der alte Baumbestand am Ufer der Ahr. Prächtige Lindenalleen, uralte Kastanien und Maronen, Blutbuchen und riesige Kiefern. Und so sitze ich an den mächtigen Stamm einer Marone gelehnt, schließe die Augen und öffne meinen Rücken für die Kraft dieser alten Lady.
Die Yogahalle ist schlecht belüftet, heiß und stickig. Ich sehne mich nach den Deckenventilatoren des indischen Subkontinents. Die ersten Tage beschäftigen wir uns mit den Vayus – den fünf "Winden" im menschlichen Organismus. Das System der Vayus ist ein rein energetisches System. Das Erspüren der Vayus ist zentraler Bestandteil des Yoga-Pranayama
- der Ausdehnung des Atems - denn Prana, die Lebenskraft, reitet den Atem.
Die fünf Vayus sind an verschiedenen Punkten im Körper verortet und haben unterschiedliche Funktionen.
Prana Vayu ist die Kraft des Atems. Besonders gut ist Prana im oberen Rücken und im Brustraum spürbar. Prana zirkuliert im ganzen Menschen.
Apana Vayu ist die Kraft der Erde, Apana verbindet uns mit der Erde, seine Kraft zieht im Körper fußwärts. Apana stabilisiert uns, wie die Wurzeln einen Baum stabilisieren. Es sitzt im Becken und steuert die Ausscheidungen - körperlich und geistig.
Samana Vayu ist die Kraft die nach Innen zieht. Zentripetalkraft. Von der Peripherie ins Innere, in die Körpermitte, das Hara. Es sitzt in der Körpermitte und regelt das Verdauungssystem.
Udana Vayu ist die Kraft, die nach oben strebt, die uns aufrichtet. Die Verbindung zum Kosmos. Sie ist im Kehlkopf verortet.
Vyana Vayu ist die Kraft, die von der inneren Mitte in die Peripherie strebt. Zentrifugalkraft. Das Fließen, das Strecken.
Sind wir uns einmal der Vayus bewusst, können wir sie beim Aufbau eines jeden Asana nutzen.
In Tadasana, der Berghaltung, dem aufrechten Stand, verwurzeln wir die Füße mit dem Boden und nutzen dazu Apana Vayu. Die Berührung der Füße mit der Erde hilft uns, die Erdanziehung zu spüren. Dazu spreizen wir die Zehen und machen die Fußsohlen weit und lang und bringen unsere Kraft nach unten.
Dann sammeln wir Samana Vayu ein. Ziehen unsere Kraft nach innen, machen den Körper kompakt, nehmen den Bauchnabel sanft nach innen und oben, drücken mit den Schultern und Handtellern, den Außenknien und dem Außenbecken unsere Samana Kraft nach innen.
Dann richten wir uns auf, nutzen Udhana Vayu um die Wirbelsäule und den Hinterkopf Richtung Himmel zu strecken.
Vyana Vayu sammeln wir, indem wir die Arm- und Beinknochen in die Peripherie fließen lassen, lang werden in Armen und Beinen und uns von Innen heraus ausdehnen.
Und zum Schluss wenden wir uns Prana Vayu zu. Wir öffnen die Körperrückseite ganz bewusst, lassen den Atem sanft und ruhig in alle Winkel des Körpers eindringen und halten ihn vielleicht einmal ganz mühelos an, um der Vayus noch bewusster zu werden, sie immer tiefer zu durchdringen.
Das geht am besten unter der Anleitung eines erfahrenen Lehrers und es geht langsam. Mit viel Muße. Zeit verliert sich. Das ist Erfahrungsyoga. Hier geht es nicht um die an Akrobatik grenzende Welt des Erlebnisyoga. Hier pusht keine Musik von einer Haltung in die Nächste, hier geht es nicht um Körperoptimierung. Hier geht es um Pratyahara – das Zurückziehen der Sinne von der Außenwelt. Das Erkunden des inneren Körpers. Das zur Ruhe bringen des Geistes. Die Vayus helfen uns, Asana leicht und stabil zu machen. „Sthira Sukham Asanam“ heißt es im Yogasutra 2.46-48 des Patanjali. Eine Haltung sollte stabil und leicht zugleich sein.
Wir üben fünf lange Tage verschiedene Asana-s mit den Vayus. Bauen immer wieder ganz in Ruhe auf, sammeln die Vayus ein und nutzen sie, um immer tiefer in die Haltungen zu schmelzen. Ja, die Hitze beutelt mich, aber die Arbeit mit den Vayus macht viel Freude, ich bin in Pratyahara, dem Zurückziehen der Sinne, angekommen und am Ende des Tages bleibt Santosha – Zufriedenheit.