ÜBEN IST ERLEUCHTUNG

„Bleibt man nur lange Zeit unerschütterlich, hält den Entschluss aufrecht und übt, so werden die ziehenden Wolken verschwinden und die Herbstwinde verwehen, was auch immer an schlechten Gedanken auftauchen mag.“

 

Es gibt immer wieder diese Abende an denen ich mir ein Buch von Dogen aus dem Regal ziehe und mich damit im Bett verkrieche. Genüsslich in die Kissen geschmiegt, warm und aufgehoben, schlage ich irgendwo auf, lese ein paar Zeilen und schon tragen mich meine Gedanken davon. Inspiration.

So auch jetzt: ...hält den Entschluss aufrecht und übt....sagt der alte Zen Meister Dogen. Ja.

Wie oft entschließen wir uns, etwas zu tun und handeln dann gar nicht oder nur für eine kurze Zeit. Eine zu kurze Zeit, um das, was wir tun, wirklich zu durchdringen.

 

Yoga citta vrtti nirodha, sagte Patanjali vor ca. 2000 Jahren. Die Fluktuationen des Geistes zur Ruhe bringen, das ist Yoga.

Hört sich verheißungsvoll an. Auch heute noch. Oder gerade heute wieder. Unsere Zeit ist schnelllebig, laut, schrill und erschöpfend. Achtsamkeits- und Entspannungsangebote boomen, Psychotherapie ist gefragter denn je. Immer mehr Menschen werden zu Suchenden, fühlen sich ausgelaugt, entfremdet, leer und sinnentfernt. Und dann fangen sie vielleicht an zu meditieren oder Yoga zu üben. Sie gehen also in irgendein Yoga Studio oder Meditationszentrum und beginnen zu üben. Sie üben dort. Wenn es gut läuft einmal pro Woche. Oft gelingt der Transfer in die eigenen vier Wände, ins tägliche Üben, nie oder erst nach Jahren.

In der westlichen Welt haben wir die Tradition des liebevoll eingerichteten Raumes zur Kontemplation, in unseren Häusern und Wohnungen, leider nicht.

In Indien gibt es in jedem Haushalt einen Raum, der für die persönliche Andacht, das Innehalten, Meditieren, Beten oder Rezitieren von Mantras eingerichtet wurde. Hier findet man Stille, den Geruch von Räucherstäbchen, bunte Teppiche, Statuen der Hindu Gottheiten oder Buddhas, Öllämpchen, Wasserschalen, Blumen. Ein Ort, extra geschaffen für die innere Einkehr, die Verbindung zwischen Geist und Natur, Seele und Gott. Yoga heißt wörtlich übersetzt anjochen. Also sich mit etwas verbinden. Die Hindus, Moslems und Christen würden sagen, sie verbinden sich mit Gott. Buddhisten verbinden sich mit der, allem innewohnenden, Buddhanatur. Agnostiker vielleicht mit der Natur. Ganz egal welche Bilder und Worte wir finden, hier geht es um einen spirituellen, inneren Prozess. Buddhisten erneuern jeden Morgen das Wasser neben ihrer Buddha-Statue und jochen sich damit, jeden Tag aufs neue, an die Verbindung zu Buddha, dem Erwachen, an. Ob dieser Prozess, des sich immer wieder Verbindens, irgendwo hinführt, ist nicht von zentraler Bedeutung. Wichtig ist, dass wir erkennen, dass es sich um einen Prozess handelt, also etwas, das sich über lange Zeit hinweg entwickelt, entfaltet, reift. Und damit dieser Reifungsprozess voranschreitet, müssen wir „dran bleiben“.  Beharrlich dran bleiben. Üben. Lange üben. Diszipliniert üben. Ein Leben lang.

Die Präzision des Iyengar Yoga hat sehr schnell mein Herz erobert, wie viele von euch wissen. Präzision und Beharrlichkeit auf der Yoga Matte zu üben, Tag für Tag, hat mich auch außerhalb der Matte, im täglichen Leben, sehr bereichert. Z.B. höre ich mit einer vertieften Präzision meinen Patienten zu, wenn sie in meiner Praxis ihr Leben reflektieren und mein beharrliches Hinterfragen führt sie in die Tiefen ihrer Gedanken und Gefühle. Ich bemühe mich, meine Kommunikation zu präzisieren und damit Missverständnissen vorzubeugen. Außerdem führt Beharrlichkeit zu einem Zuwachs von Geduld und Erkenntnissen. Wir werden weiser und gelassener und vor allem liebevoller mit uns selbst. Es finden sich unzählige Beispiele, wo uns Präzision und Beharrlichkeit das Leben erleichtern.

Hören wir also auf, irgendetwas anzustreben, irgendwo ankommen zu wollen, womöglich Erleuchtung erlangen zu wollen. Dogen hat es auf den Punkt gebracht: Üben ist Erleuchtung.

Mit Beharrlichkeit und Präzision zu üben schenkt uns Freude und Gelassenheit. Es geht nicht darum, ein Meister zu werden. Es geht darum sich den Anfängergeist zu bewahren und ein ewig Übender zu bleiben. Neugierig und mit sorglosem Wagemut.