Die Welt auf den Kopf stellen

 

 

 

 

 

 

Ganesha

Hüter der Yogapraxis

Umkehrhaltungen

 

„Aller Nektar der aus der heiligen Gestalt des Mondes fließt, wird von der Sonne geschluckt.

 Deshalb vergeht der menschliche Körper.

 Aber es gibt einen großartigen Weg die Sonne zu übertölpeln.

 Wenn dein Nabel hoch liegt und dein Gaumen tief, dann ist die Sonne oben der Mond ist unten.

 Diese Position, den umgekehrten See (Viparita Karani), musst du mit der Hilfe eines Lehrers lernen.“

Hatha Yoga Pradipika III, 77-79

 

In diesem Sutra wird der hintere Teil des Gaumens als Mond bezeichnet.

Die Sonne bezeichnet die Nabelregion. Der Nektar, von dem hier die Rede ist, ist der Nektar der Unsterblichkeit (Amrita). Am Gaumen wird er produziert, dann geschluckt und vom Feuer der Sonne verzehrt.

Drehen wir also in einer Umkehrhaltung den Körper um – Kopf unten, Herz oben -, soll somit der Prozess des Vergehens verlangsamt werden.

So die Hatha Yoga Pradipika aus dem 14.Jahrhundert.

 

Kehren wir zurück in die Jetzt-Zeit.

Umkehrhaltungen sind ein ganz besonderes Geschenk des Yoga an den Menschen. Sie sind eine Wohltat. Sie ebnen uns den Weg in die Tiefen unseres So Seins, helfen uns in Kontakt mit den uns innewohnenden  heilenden Kräften zu kommen. Sie schenken uns den Raum und die Ruhe, uns zu ergründen und zu verstehen, uns mit unseren Ängsten und unseren Ressourcen zu verbinden. 

 

Umkehrhaltungen führen zu einer optimalen Durchblutung der Hormondrüsen, regulieren das lymphatische System und das Nervensystem und gleichen die Zirkulation von Lymphe und Blut aus. Verstopfung, Blähungen und Hämorrhoiden werden gelindert. Schlafstörungen bessern sich bei regelmäßigem Üben von Umkehrhaltungen.

 

König und Königin der Umkehrhaltungen sind Kopfstand und Schulterstand. Sirsasana und Sarvangasana.

Im Kopfstand entfalten wir Mula Bandha, den Wurzelverschluss und Uddhiyana Bandha, den Bauchverschluss, sodass der Energiefluss nach oben geöffnet wird.  Sirsasana ist also ein aktives, energetisierendes Asana. Wir sehen die Welt aus umgekehrter Perspektive. Das belebt den Geist und schärft die Augen.

Der Schulterstand ist kontemplativ. Er beruhigt das Halschakra und öffnet alle Blockaden der Halswirbelsäule. So kann sich der Kehlverschluss, Jalandara Bandha entfalten. Die Augen sind geschlossen und nach unten ausgerichtet, die Sinne nach innen genommen. Das Innenohr wird geweitet und stark durchblutet. Es stellt die Verbindung zu unserem inneren Raum her. Iyengar sagt in Licht auf Yoga. „Regelmäßiges und präzises Üben von Kopfstand und Schulterstand entwickelt den Körper, diszipliniert den Geist und öffnet den spirituellen Horizont. Man wird ausgeglichener und selbstbewusster im Umgang mit Schmerz und Freude, Verlust und Bereicherung, Scham und Ruhm, Niederlage und Sieg.“

Setu Bandha Sarvangasana, eine weitere Umkehrhaltung, entfaltet alle drei Bandhas zugleich. Der Energiefluss und der Herzraum sind weit geöffnet. Nicht selten ist dies der Moment in einer restaurativen Yoga Praxis, in der die Tränen des Übenden einfach zu fließen beginnen.

 

Im Iyengar Yoga üben wir diese Haltungen gerne mit der Hilfe von Bolstern, Decken, Klötzen, Gurten und Stühlen. Nur so können wir unsere Präsenz ganz dem Formen des Atems widmen, können den Atem in die entlegensten Winkel des Körpers leiten, ihn nähren mit Prana, der Lebensenergie.

Um die Wohltat der Umkehrhaltungen zu erfahren, braucht es Zeit. Mal kurz in den Schulterstand zu gehen ist sportlich, aber sonst nichts. Der Nutzen dieser wunderbaren Haltungen erschließt sich uns erst, wenn wir bleiben. Minutenlang bleiben. Anatomisch, physiologisch, mental, psychologisch und spirituell werden sie uns nur von Nutzen sein, und uns  ans Herz wachsen, wenn wir bleiben. In aller Ruhe bleiben. Und das will geübt sein. Täglich.

 

Prashant Iyengar hat es so ausgedrückt: „ Man kann nicht Reis in kochendes Wasser geben und erwarten, dass er bereits nach einer Minute gar ist.“