Reise in die Vergangenheit

Eine Reise in die Vergangenheit

 

Es ist früh am morgen. Ich sitze in meinem Bett, das Laptop auf dem Schoß. Draußen ist es dunkel und still. Sonntag. Vor gerade mal sechs Stunden kam ich von einem Klassentreffen meiner „Sechsta“ nach hause und bin immer noch angefüllt von den Eindrücken des gestrigen Abends. Gefühle rücken aus weiter Ferne wieder ins Licht, Fetzen von Erinnerungen setzen sich zu einem Puzzle der Kinder- und Jugendzeit zusammen.

 

1969 fanden wir uns, am ersten Musikgymnasium der Nation. Wir hatten alle eine Aufnahmeprüfung absolviert, spielten mit zehn Jahren  unsere Instrumente schon ganz passabel, waren sehr musikalisch. Sicher war es damals die Musik, die uns sofort tief im Inneren verband, ohne dass es uns bewusst war. Vormittags lernten wir, wie alle Gymnasiasten, den üblichen Schulstoff. Nach dem gemeinsamen Mittagessen und einer Pause auf dem Schulgelände sangen wir nachmittags im Chor miteinander, hatten Stimmbildungsunterricht, spielten im Orchester, quälten uns in den musiktheoretischen Klassen mit Harmonielehre, Elementarlehre und Gehörbildung rum, und lernten zwei Instrumente. Freitags nachmittags endete der Unterricht schon etwas früher, dann befreiten wir uns von der Klassik, legten die Beatles und Stones, Barry Ryan und Shocking Blue auf den Plattenteller im Klassenraum, zogen die Vorhänge zu und feierten Partys, tanzten, sangen und küssten, hin und wieder, zart und schüchtern.

 

So viele Jahre sind seitdem vergangen.

Jetzt sitzen wir im Traditionsbrauhaus der Kölner Südstadt und finden, dass wir immer noch so aussehen wie früher. Jedenfalls fast. Ich schaue an dem langen Holztisch in die Runde, bin von Musikschaffenden umgeben. Orchestermusiker, Musiklehrer, Komponisten, Sänger. Und die Wenigen, die in anderen Berufen tätig sind, sind von Musik beseelt und geprägt. Zu fortgerückter Stunde verteilt jemand Notenblätter, ein Lied von Mendelssohn Bartholdy, und einige beginnen, im vollbesetzen Brauhaus, den dreistimmigen Satz vom Blatt zu singen. Das Brauhaus applaudiert. Wir sind in Köln, die Menschen sind offen, tolerant und gut drauf.

Es dauert nicht lange, da ist die alte Vertrautheit zum Greifen nah in unsere Mitte gerückt. Freunde. Nähe. Offenheit. Lachen. Besinnlichkeit. Gelebtes gemeinsames Leben. Wir erinnern uns, erzählen, lesen uns alte Schulaufsätze vor, kichern, teilen die Ängste vor so manchem Lehrer, der noch nicht begriffen hatte, dass die sexuelle Revolution in vollem Gange war und die verkrustete Pädagogik der Nachnazizeit vom Freigeist  „A.S.Neill’s Antiautoritärer Erziehung“ abgelöst sein wollte. Damals grölten wir „Satisfaction“ und schmusten zu „Lucy In The Sky With Diamonds“. Die Welt hatte sich verändert. 

 

Wir gründeten unsere ersten Bands, trampten durch Europa, und machten unsere Erfahrungen mit psychedelischen Drogen gemeinsam. Wir waren geflasht vom Santana Konzert mit Earth Wind and Fire als Vorgruppe und ich heulte einen ganzen Abend, vor lauter Berührt sein, bei einem Konzert von Ella Fitzgerald.

 

R. hatte zu diesem Klassentreffen eingeladen. Irgendwann am Abend sagte er:

„Die Zeit mit euch war die Schönste in meinem Leben, und ich bin euch sehr dankbar.“

Neun Jahre hatten wir miteinander verbracht, von morgens bis abends. Das ist mehr, als so manche Ehe andauert.

 

Zum Abschied umarmen wir uns von Herzen. Ja, es war eine gute Zeit. Eine prägende Zeit. Damals stellte das Leben die Weichen für unsere individuellen Wege.

Wir können uns heute begegnen oder auch nicht. Wir sind für immer verbunden. Verbunden durch das starke Band der Musik und verbunden durch das gemeinsame Reifen in einer Zeit, in der wir leicht verwundbar waren. In einer Zeit der Offenheit und Freiheit des Geistes.